Wie ich die Kirmse in Lippersdorf besucht habe

Wilhelm Bauer Februar 1947
 

Es war in der goldenen Zeit des Jahres 1899. Da besuchte ich mit meinem Vater am ersten Oktobersonntage die Kirmse zu Lippersdorf. Es war ein schöner milder Tag. Von den Straßenbäumen schwebten die ersten bunten Blätter, leichter Dunst ruhte auf den Feldern. Lange wanderten wir durch den stillen Wald. Über der Kreuzstraße auf sandiger Höhe zeigte mir der Vater zwei lange, mit Wald bewachsene, Gräben als letzte Spuren der alten Heerstraße, die sich einstmals von Gera nach Roda hinzog. Nach längerer Wanderung wurde der Weg sandig und steinig und senkte sich hinab in den reizenden Ölsnitzgrund. Bald erreichten wir die obere Ölsnitzmühle. Das Wasser des großen Mühlrades rauschte hinab in einen schauerlichen Schlund. „Aus diesem Schacht“, erzählte der Vater, „hat man vor vielen Jahren ein armes Dienstmädchen tot herausgezogen“. Vermutlich hat sie sich selbst hinabgestürzt. Doch ging auch das Gerede herum, der Sohn des Müllers, der sich an ihr vergangen, hätte sie erwürgt und in die Tiefe geworfen. Doch der Müller leugnete vor Gericht alles ab. Am Begräbnistage waren von den umliegenden Dörfern die Menschen her­beigeströmt. Als der Sarg zum Friedhof hinaufgetragen wurde, schwebte eine weiße Gans über das Tal und setzte sich auf dem Sarge nieder. Die Träger standen still. Bald aber flog das Tier wieder davon. Dieses seltsame Ereignis sah der Pfarrer als Zeichen von der Unschuld des Mädchens an und begrub sie mit allen kirchlichen Ehren." - Als ich nach vielen Jahren die Schriftstücke der Pfarrei zu Ottendorf bearbeitete, stieß ich auf diese unheimliche Geschichte. Doch hatte sie sich nicht in der oberen Ölsnitzmühle, sondern in der oberen Eineborner Mühle zugetragen. Schon lag die untere Ölsnitzmühle hinter uns und wir erreichten den oberen Teil des schönen Lippersdorfs. Eine Schar Gänse, die sich auf der schnellfließenden Roda tummelte, begrüßte uns mit lautem Geschrei. Längs des Wassers zieht sich die mit Linden bepflanze Landstraße. Zu beiden Seiten des Flusses und der Straße stehen die schmucken Fachwerkhäuser. Wie bei allen alten Holzlandhäusern ruhte das Obergeschoß auf einem Säulenwerk, Umgebinde genannt. Innerhalb desselben war der aus starken grobbehauenen Balken bestehende Hauskasten eingebaut. Damals war an vielen Häusern der Blockbau noch sichtbar. Nur wenig Menschen sahen wir auf der Straße, denn sie saßen beim Kuchenschmause. Bald konnten wir unsere freundliche Kirmeswirtin begrüßen. In der großen Stube an einer langen Tafel saßen die Kirmesgäste, meistens Frauen und Kinder. Es wurde tüchtig zugelangt und die Kuchenberge schmolzen zusammen. Am Ende der Tafel nahmen wir Platz. Mehrere Teller mit Kuchen wurden vor uns gestellt. Ich aß Sträußel-, Hirschhorn-, Asch- und Schokoladenkuchen, dann Apfel-, Quark-, Mohn- und Mandelkuchen. Zuletzt langte ich nach den Kräppelchen. Da die gute Hausfrau sah, dass uns diese feine Blätter­teiggebäck, gut schmeckte, ging sie in das Gewölbe und schob uns einen Teller voll zu uns. Ich konnte nicht mehr. „Nun sucht den Eduard“, sagte die Hauswirtin, „dass er Euch die Fische holt.“ Wir hatten Glück. Wir öffneten die Tür der ersten Schenke.

Wir konnten kaum jemand erkennen, denn die Stube war mit dickem Zigarrenrauch angefüllt, Auf Bänken an Tafeln saßen dichtgedrängt die Bauern mit ihren Gästen beim Bier. Unser Hauswirt hatte uns bald erkannt und erhob ein Freudengebrüll. Wir mussten uns zu ihm setzen. Bald stießen wir mit den Gläsern an. Nach einer Stunde erhoben wir uns, um Fische zu besorgen. „Was wünscht Ihr Euch?“  fragte der Hauswirt, „Es gibt Karpfen, Forellen und Aale.“ Wir entschieden uns für Aal. Aus dem Fischkasten zog er drei Stück hervor. „Die langen für Euch.“ meinte schmunzelnd der gastfreundliche Hauswirt.

In der Dämmerstunde vor dem Essen saßen die Gäste in der großen Stube und erzählten aus ihrem Leben. Hierauf unterhielten uns die beiden jungen Töchter, sie spielten auf einer Schlag- und Streichzither recht hübsch einige Lieder. Als die letzten Töne verklungen waren, trug die Köchin die Suppe auf. Bald saß alles beim Kirmesschmaus. Wie fein schmeckte die dicke Eiersuppe mit Nierenscheibchen. Nun wurde der Fisch mit Salzkartoffeln, brauner Butter und Krautsalat aufgetragen. Wir bekamen eine Schüssel voll Aal. Da gab es keine hässlichen Gräten wie beim Karpfen, wir aßen nach Herzenslust. Auf die Lende, die nun herumgereicht wurde, mussten wir verzichten, ebenfalls auf den kalten Schweinebraten mit Süßäpfeln. Zuletzt naschten wir noch ein wenig Butter und Käse. Da wurde uns beiden übel und klagten unsere Not dem Hauswirt. „Das habe ich mir gedacht.“ sagte er, „Aal ist schwer zu vertragen. Trinkt einen kräftigen Nordhäuser.“ Wir befolgten seinen Rat und uns wurde bald wohler.
Nach dem Essen besuchten die Wirtsleute mit ihren Gästen den Tanzsaal. Dieses Gebäude ist nicht mit dem Gasthofe verbunden, sondern steht einsam auf einem grünen Plane in der Nähe der Roda. Es besteht aus zwei Teilen, aus einem Tanzboden und aus einem Aufenthaltsraume für die Alten. Im Saale oben auf einer Galerie schmetterten die Dorfmusikanten mit ihren Blechinstrumenten die Tänze. Die Töne der Posaune waren öfters zu hoch, auch manchmal zu tief. Niemand störte es. Das junge Volk schwenkte sich lustig im Kreis. Wie der Tanz beendet war, hüpften die Mädchen auf die Bänke, die sich an den Wänden hinzogen. Die jungen Burschen stürzten sich an die Einschenke.

Hier hatte ein Auswärtiger eine Runde Bier bezahlt. Nun konnte er ungestört mit seinem Mädchen tanzen, vielleicht auch heimführen. Jetzt fing ein Bursche mit heller Stimme an zu jodeln. Dreistimmig fiel der Chor ein. Die Mädchen wollten auch nicht schweigen, wir hörten ein wehmutsvolles Liebeslied. Bald erklang der Kirmeswalzer. Jung und Alt sangen: „Sis mer im Läbe schlacht, sis mer ach su nich racht, Karmse, Karmse!“ Das war eine Lust! Alle Sorgen und Schmerzen waren heute zur Kirmse vergessen. Der Vater meinte, es gehöre sich, mit der Hausfrau und mit den Gästen einmal zu tanzen. So geschah es. Bald scharrten wir auf den groben Dielen einen Walzer, einen Rheinländer und eine Polka. Es war 24:00 Uhr geworden. Wir wollten nun nach Hause gehen, aber die freundlichen Wirtsleute ließen es nicht zu, sondern brachten uns nochmals in ihre Behausung. Bald saßen wir beim dampfenden Kaffee und beim Kuchen. Herzlich nahmen wir endlich Abschied, da überreichte uns die Hausfrau ein an den vier Zipfeln zusammengebundenes Tuch, das mit dem köstlichen Kuchen angefüllt war. Draußen auf der Straße spießte ich meinen Stock unter die Zipfel und trug die süße Last auf der Schulter. Der Tanzsaal leerte sich allmählich und in vielen Häusern brannten die Lichter.
Das am Ende des Dorfes gelegene Gasthaus war noch hell erleuchtet. Der Vater schlug vor, nochmals einzukehren, da es um diese Zeit manchmal noch Spaß gäbe. Also traten wir in die Gaststube. Auf einem Stuhle saß schlafend ein Betrunkener, die Beine hatte er vorgestreckt, schlaff hingen die Arme herunter, öfters grunzte er. Um ihn saßen die Wirtsleute und zwei Hermsdorfer. Der Wirt erzählte:

Es ist ein Hellborner Bauer, er ist sonst ein solider Mann, aber zur Lippersdorfer Kirmse besäuft er sich regelmäßig, bei mir hat er Karpfen gegessen. Seit zwei Stunden habe ich ihn ermahnt; doch nach Hause zu gehen, aber alles ist vergebens. Da füllten die Hermsdorfer ein großes Schnapsglas mit Neigen Bier, taten Senf, Pfef­fer, Salz und Zigarrenasche hinzu und gaben dieses gräuliche Ge­misch den Schlafenden zu trinken. Dieser schluckte alles hinunter. Nach kurzer Zeit sprang er in die Höhe und schoss wie ein Pfeil zur Tür hinaus. Bald hörten wir ein furchtbares Stöhnen. Ich hatte Angst um den Mann und dachte, er müsste sterben. Doch der Wirt beruhigte mich und sagte: „Der speit nur!“ Doch ging ich hinaus in den Hof. Dort lag unser Hellborner auf dem Pflaster und erbrach sich. Ziemlich mit klarer Stimme sprach er zu mir: „Es ist schade um den guten Karpfen.“ Nach kurzer Zeit trat er ziemlich nüchtern in die Gaststube, setzte sich auf seinen Stuhl und sagte zu den Hermsdorfern: „Habt Dank für den guten Trank. Er hat mir gründlich den Magen ausgeleert." Und vom Wirt verlangte er mit starker Stim­me ein Glas Bier. Aber die Wirtin entgegnete: „Franz, ich koch dir eine Tasse starken Kaffee, wenn Du den getrunken hast gehst Du nach. Hause, es ist schon 02:00 Uhr.“ Franz aus Hellborn war zu frieden. Auch wir traten den Heimweg an. Unser Weg führte uns wieder durch den finsteren Ölsnitzgrund. Schon lagen die beiden Mühlen hinter uns. Halb schlafend und träumend erreichten wir endlich auf der Höhe die schöne Waldstraße. Der Vater meinte, es den Pferden gleich zu tun und hier im Gehen zu schlafen. An seinen tiefen Atemzügen vernahm ich, dass er wirklich eingeschlummert war. Er murmelte etwas, dann schreckte er zusammen, er gab vor, von dem Großvater geträumt zu haben. Bald träumte er wieder und murmelte: „50 Taler für den Bock ist viel zu viel.“ Er war beim Pferdehandel. Jetzt waren auch wir die Augen zugefallen. Ein Schrei! der Vater war in einen Straßengraben gefallen. Ich sprang schnell hinzu. Es war alles gut abgegangen, nur die Hand blutete ein wenig. Da sagte der Vater: „Es hat keinen Zweck, wenn wir beide schlafen. Einer wacht und der andere schläft. Jetzt bin ich wieder munter geworden. Ich führe Dich bis zur Kreuzstraße und dann fasst Du mich an bis nach Hause.“ So geschah es. Im Schutze des Vaters schlief ich fest ein. Ich war ganz erstaunt, schon an der Kreuzstraße zu sein. Der Vater brachte vor, dass ich furchtbar geschnarcht hätte. Fun war ich der Führer des Vaters. Er schlief schnell ein. Vor unserem Hause hielt ich. Er wurde munter und war ganz erstaunt, schon daheim zu sein. Hell brannte das Licht in der Stube, die Mutter war schon aufgestanden. Sie war sehr erfreut, dass wir so wohlbehalten heimgekommen waren. Bald stand der Morgenkaffee auf dem Tisch, und wir aßen zum dritten Male den köstlichen Kirmeskuchen. Der Vater legte sich nicht ins Bett, sondern streckte sich einige Zeit auf der Bank aus. Ich aber schlief fest im Bett bis Mittag.
Mit Freude und mit Wehmut denke ich an die reiche und glückliche Zeit zurück. Furchtbares Elend liegt nach den zwei verlorenen Weltkriegen über unserem Volk. Schwerer als der Hunger ist in diesem Winter die Kälte zu ertragen. Die lieben Eltern, die freundlichen Wirtsleute sind längst zur ewigen Ruhe eingegangen, die Musikanten haben schon lange ihre Instrumente weglegen müssen. Die jungen Burschen und Mädchen gehen mit weißen Haaren gebückt auf der Straße. Wie vergänglich ist der Mensch. Aber ewig schön bleibt unser Heimatland mit seinen grünen Feldern und Wiesen und rauschenden hellen Bächen.

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